01. September 1948: Die vier "Mütter des Grundgesetzes"
Im September 1948 traten 65 Delegierte aus den westdeutschen alliierten Zonen zusammen, um eine Verfassung für einen deutschen Staat auszuarbeiten. Vier Frauen arbeiteten am demokratischen Fundament für Deutschland mit: die vier "Mütter des Grundgesetzes".
Auftrag und Zusammensetzung
Der Auftrag für die 65 Delegierten des Parlamentarischen Rates war klar, als sie am 1. September 1948 für die Formulierung des Deutschen Grundgesetzes zusammenkamen: „Einen Bau zu errichten, der am Ende ein gutes Haus für alle Deutschen werden soll“, so beschrieb es der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold (CDU) bei der feierlichen Eröffnungszeremonie des Gremiums.
65 Delegierte formulierten das Grundgesetz, nur vier von ihnen waren Frauen. Sie sind als "Mütter des Grundgesetzes" bekannt: Die SPD-Politikerinnen Friederike "Frieda" Nadig und Elisabeth Selbert, CDU-Delegierte Helene Weber und Zentrums-Politikerin Helene Wessel, die später mit Gustav Heinemann die Gesamtdeutsche Volkspartei gründete.
Wenige Monate vor dem Zusammentritt des Gremiums hatten sich die USA, Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Ländern darauf geeinigt, Deutschland langsam wieder die Regierungsverantwortung zu übertragen. Das Fundament dafür sollte auf einer Verfassungsgebenden Versammlung gelegt werden. Die Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder fürchteten allerdings, dass mit dem zu gründenden Staat die Teilung Deutschlands manifestiert würde. Statt einer Nationalversammlung wurde deshalb die Bezeichnung "Parlamentarischer Rat" vorgeschlagen, die Verfassung nannte man "Grundgesetz".
Die Landtage der elf westdeutschen Länder wählten Delegierte in den Parlamentarischen Rat. Zur ersten Sitzung, die im Anschluss an die Eröffnungsfeier in der Pädagogischen Akademie stattfand, fanden sich je 27 Abgeordnete der SPD und CDU/CSU ein, fünf Vertreter der FDP und je zwei Delegierte für die KPD, die Zentrums-Partei und die Deutsche Partei (DP). Der einstige Oberbürgermeister Kölns und spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) wurde zum Präsidenten des Parlamentarischen Rats gewählt. In sieben Fachausschüssen wurden inhaltliche Fragen von Wahlrecht über Finanzen bis Verfassungsrecht diskutiert, bevor im Hauptausschuss darüber beraten wurde. Der so entstehende Grundgesetzentwurf wurde im Plenum verlesen und schließlich verabschiedet; der ganze Prozess dauerte knapp 10 Monate. Die Fotografin Erna Wagner-Hehmke dokumentierte im Auftrag der nordrhein-westfälischen Landesregierung die Arbeit des Parlamentarischen Rats und schafft so bedeutende Zeitdokumente aus der Gründungsphase der Bundesrepublik, die heute im Haus der Geschichte lagern.
Die vier Mütter des Grundgesetzes
CDU-Delegierte Helene Weber hatte von den vier Frauen im Gremium die meiste politische Erfahrung: Die gelernte Romanistin und Volkswirtin hatte bereits im Preußischen Landtag gedient und an der verfassungsgebenden Nationalversammlung der Weimarer Republik teilgenommen. Während der Verhandlungen im Parlamentarischen Rat brachte sie ihre Expertise im Ausschuss für Wahlrechtsfragen und beim Familienrecht ein. Weber engagierte sich für den Schutz von Ehe und Familie sowie für das Elternrecht und beeinflusste damit die Formulierungen von Artikel 6 und 7 des Grundgesetzes.
Im Schulterschluss mit Elisabeth Selberts SPD-Parteikollegin Frieda Nadig machte sich Weber außerdem für die Lohngleichheit von Männern und Frauen stark. Mit der Forderung, die gleiche Bezahlung im Grundgesetz zu verankern, scheiterten sie jedoch.
Die Zentrums-Politikerin und überzeugte Katholikin Helene Wessel engagierte sich wie Helene Weber besonders für den Schutz von Familien und Müttern. Wessels jahrelange Erfahrung in der Fürsorge und die Arbeit mit ledigen Müttern hatten sie für deren Situation sensibilisiert. In Anbetracht der Nachkriegsrealität mit zahlreichen alleinstehenden Müttern, deren Ehemänner gefallen oder in Kriegsgefangenschaft waren, forderte sie staatliche Unterstützung für ledige Mütter.
Trotz allen Engagements gingen Wessel die Formulierung des Grundgesetzes nicht weit genug. Die Zentrums-Politikerin forderte eine direktere Demokratieausübung in Form von Volksabstimmungen; auch das Elternrecht war ihrer Meinung nach unzureichend angelegt. Wessel gehörte deshalb zu den 12 Delegierten, die bei der Schlussabstimmung im Parlamentarischen Rat nicht mit „Ja“ für das Grundgesetz stimmten. Trotz ihrer Gegenstimme unterzeichnete sie das Grundgesetz jedoch.
Die Kasseler Sozialdemokratin und Juristin Elisabeth Selbert engagierte sich im Parlamentarischen Rat zunächst für die Schaffung des Bundesverfassungsgerichts. In der NS-Zeit hatte sie gesehen, was ein vom Staat kontrolliertes Rechtswesen anrichten konnte. Sie drängte deshalb darauf, ein unabhängiges oberstes Gericht zu schaffen, das für die Normenkontrolle der politischen Gremien zuständig war.
Elisabeth Selbert kämpfte zudem für die Aufnahme einer glasklaren Formulierung, um die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen im Grundgesetz festzuschreiben: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“. Nicht nur die Männer im Gremium lehnten den Entwurf ab, auch die drei Frauen waren skeptisch. Denn die von ihr favorisierte Formulierung schrieb auch eine Pflicht des Staates im Grundgesetz fest, aktiv auf die Gleichberechtigung hinzuarbeiten. In der Praxis hieß das, das auch das Bürgerliche Gesetzbuch reformiert werden musste, das Frauen unter anderem in der Ehe und im Falle einer Scheidung schlechter stellte.
Selbert gelang es, ihre Kolleginnen für den Vorschlag zu gewinnen. Eine Öffentlichkeitskampagne tat ihr Übriges, um auch die zaudernden männlichen Delegierten zu überzeugen: Nach mehreren gescheiterten Anträgen wurde die Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ schließlich angenommen.
Der weitere Weg der vier Frauen
Auf ihre Weise hat jede der vier "Mütter des Grundgesetzes" die Verfassung der deutschen Demokratie mitgeprägt. Ihre politischen Wege endeten nicht mit der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949.
Helene Weber gehörte von 1949 bis 1962 dem Deutschen Bundestag an, gründete die Frauen Union der CDU mit und hatte Leitungsfunktionen in der katholischen Frauenbewegung inne. Zentrums-Politikerin Helene Wessel saß bis 1953 für die Zentrums-Partei im Deutschen Bundestag, trat 1951 aus Protest gegen deren Zustimmung zur Wiederbewaffnung der BRD aus der Partei aus und wurde 1957 Mitglied der SPD, für die sie 1957 bis zu ihrem Tod 1969 erneut im Bundestag saß.
Als einzige der vier „Mütter des Grundgesetzes“ wurde Elisabeth Selbert nicht Mitglied des Bundestages. Weil sie im Kampf für die Gleichberechtigung die überparteiliche Zusammenarbeit – darunter auch mit Kommunistinnen – gesucht hatte, war ihr Verhältnis zur Bundes-SPD gestört. Selbert war kurzzeitig Mitglied im Hessischen Landtag, bevor sie sich ihrer juristischen Praxis in Kassel widmete.
Frieda Nadig setzte Selberts Engagement für die Gleichstellung fort: Im Bundestag, dem Nadig bis 1961 angehörte, drängte sie auf die notwendige Reformierung des BGB. Nach jahrelangem Kampf verabschiedete der Bundestag 1957 endlich das „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“, das unter anderem das Letztentscheidungsrecht des Ehemanns abschafft. Ein erster praktischer Schritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung, die jedoch bis heute noch nicht vollständig erreicht ist.