16. Februar 1923: 100. Jahrestag der Einführung des gesonderten Jugendstrafrechts durch Gustav Radbruch
"Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken.“ – Dieses Zitat entstammt § 2 Abs. 1 des Jugendgerichtsgesetzes, das in der jungen Weimarer Republik unter Federführung von Reichsjustizminister Gustav Radbruch (SPD) ausgearbeitet wurde und am 16. Februar 1923 in Kraft trat. Während dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 entsprechend die Strafmündigkeit mit Vollendung des 12. Lebensjahres erreicht wurde, definierte das Jugendgerichtsgesetz Jugendliche in der Weimarer Republik erstmals juristisch als Personen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren. Das gesonderte Jugendstrafrecht stellte jedoch nicht nur auf dem Gebiet der Justiz eine auch im internationalen Kontext revolutionäre Neuerung dar, sondern war auch Ausdruck des politischen Selbstverständnisses eines erstmals auf deutschem Boden verwirklichten demokratischen Staates.
Inhalt des Jugendgerichtsgesetzes von 1923
Wie in § 2 Abs. 1 des Jugendgerichtsgesetzes festgelegt, diente das Jugendstrafrecht als Erziehungsstrafrecht der Prävention weiterer Straftaten sowie der Resozialisierung der jugendlichen Straftäterinnen und Straftäter. Der Strafzweck der Vergeltung wurde hierbei ausdrücklich abgelehnt. Die besondere Behandlung jugendlicher Straftäterinnen und Straftäter umfasste auch eine Prüfung von deren Einsichtsfähigkeit. Das Jugendgerichtsgesetz wirkte im Zusammenspiel mit der Einsetzung von Jugendrichtern, Jugendgerichten und speziellen Jugendhaftanstalten sowie dem ersten Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt aus dem Jahr 1922, das allen deutschen Kindern ein „Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ zusprach und zur Aufsicht dessen Jugendwohlfahrtsbehörden einsetzte, revolutionär.
Dass die Ablehnung der Todesstrafe als Gradmesser von humanistischer Gesinnung und demokratischem Potential eines Staates herangezogen werden kann, gilt als gesellschaftlicher Konsens. Doch besonders das Erkennen der Jugendlichen als die zukünftigen Bewahrer und Gestalter eines jeden politischen Systems, die sie naturgemäß sind, und im nächsten Schritt die demokratische Erziehung aller Jugendlichen sowie die gesellschaftliche (Wieder-) Eingliederung jugendlicher Krimineller sind Basis einer nachhaltigen Verankerung demokratischen Gedankenguts in der Gesamtgesellschaft. Mit dem Jugendgerichtsgesetz legten Politiker um Gustav Radbruch bereits vor 100 Jahren den Grundstein unseres heutigen Jugendstrafrechts.
Gustav Radbruch als einer der bekanntesten deutschen Rechtsphilosophen
Der 1878 in Lübeck geborene Gustav Radbruch ist nicht nur als Vater des deutschen Jugendstrafrechtes eine relevante Figur der historisch-politischen Bildung. Von 1920-1924 Reichstagsabgeordneter, brachte er als Reichsjustizminister von 1921 bis 1923 außerdem einen Antrag auf die Straflosigkeit von Abtreibungen innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate ein und engagierte sich für die Zulassung von Frauen zum Richteramt. Unter dem Eindruck des nationalsozialistischen Unrechtsregimes formulierte er zur Bewegung auf dem Spannungsfeld zwischen positivem, das heißt staatlich festgesetztem, Recht und dem universalen Wert der Gerechtigkeit die sogenannte „Radbruch’sche Formel“: „Leicht unrichtiges“ positives Recht müsse zum Zwecke der Rechtssicherheit bestehen bleiben. Nehme „unrichtiges positives Recht“ jedoch ein unerträgliches Ausmaß an, so sei es zu bekämpfen. Seine Formel war und ist grundlegender Gegenstand rechtsphilosophischer Kontroversen und fand unter anderem in den sogenannten „Mauerschützen-Prozessen“ Anwendung, in denen über die Strafbarkeit ehemaliger DDR-Grenzsoldaten verhandelt wurde, die auf „Republikflüchtige“ geschossen hatten.
Entwicklung des Jugendstrafrechts in Deutschland
Im nationalsozialistischen Regime wurde der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts durch verschiedene Verordnungen aufgeweicht, sodass ab 1943 ab dem 14. Lebensjahr das Erwachsenenstrafrecht angewandt werden konnte. Am 1. Oktober 1953 trat in der Bundesrepublik Deutschland ein neues Jugendgerichtsgesetz in Kraft, das weitestgehend auf dem 1923 verabschiedeten Gesetz basierte. Nicht zuletzt daran ist die Fortschrittlichkeit der rechtstheoretischen Überlegungen der Politiker um Radbruch zu erkennen, die nach der Festsetzung 1923 auch praktische Anwendung fanden.