17. Januar 1973: 50. Jahrestag des ersten kollektiven Hungerstreiks der Roten Armee Fraktion (RAF)
Hungerstreiks waren und sind ein Mittel des passiven politischen Widerstands und des Protests von Einzelnen oder Gruppen, um ein vorher definiertes Ziel durch die bewusste Inkaufnahme des Risikos, körperliche Schäden davonzutragen oder zu sterben, zu erzwingen. Bei einem politischen Hungerstreik handelt es sich um eine öffentliche Demonstration, die das Ziel hat, Aufmerksamkeit auf ein Problem zu lenken, das aus der Sicht des Hungerstreikenden nicht mit anderen Mitteln zu erreichen ist. Niemand in der Geschichte der Bundesrepublik gelang es so erfolgreich wie den Mitgliedern der RAF in den 1970er und 1980er Jahren, mit Hilfe von Hungerstreiks in westdeutschen Justizvollzugsanstalten (JVA) die Politik unter Druck zu setzen sowie die Öffentlichkeit und die Medien zu instrumentalisieren. Heute vor 50 Jahren begannen die damals in unterschiedlichen Justizvollzugsanstalten inhaftierten RAF-Mitglieder ihren ersten Hungerstreik, der den Auftakt einer Reihe weiterer darstellte und die Geschichte der Bundesrepublik nachhaltig prägen sollte. Wie aber kam es zum ersten Hungerstreik der RAF?
Geschichte der RAF nach der „Mai-Offensive“
Ende Juli 1972 schien es so, als sei die RAF bereits Geschichte: Ein Großteil der RAF-Mitglieder saß bereits kurz nach der sogenannten „Mai-Offensive“ in Untersuchungshaft. Wichtige konspirative Wohnungen waren durch die Ermittlungsbehörden enttarnt und zentrale Depots mit Waffen, Geld und Sprengstoffen beschlagnahmt worden. Die seit 1970 aufgebauten geheimen Strukturen, die für den „bewaffneten Kampf“ der RAF unabdingbar waren, hatten die Ermittlungsbehörden zerschlagen. Politikerinnen und Politiker feierten ihren Sieg über die „Baader-Meinhof-Gruppe“. Auch die Medien gingen größtenteils davon aus, dass die Geschichte der RAF bereits beendet sei. Wie falsch viele Politikerinnen und Politiker sowie Teile der Medien mit dieser Einschätzung liegen sollten, zeigte sich jedoch schnell.
Die zuständigen Staatsanwaltschaften arbeiteten bereits seit den ersten Festnahmen von RAF-Mitgliedern daran, Prozesse gegen die Gruppe vorzubereiten. Bereits am 26. Juli 1972 wurde Werner Hoppe vom Landgericht Hamburg wegen versuchten Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt. Schon früh gab es erste Versuche, Teile der inhaftierten RAF-Mitglieder mittels Entführungen aus westdeutschen Justizvollzugsanstalten zu befreien. Bei der Olympia-Geiselnahme am 5. September 1972 in München, durchgeführt von einem Kommando der bewaffneten palästinensischen Splittergruppe „Schwarzer September“, stand die Freilassung von Ulrike Meinhof auf der Forderungsliste der Entführer. Nach dem missglückten Befreiungsversuch der bayerischen Polizei auf dem Flugfeld in Fürstenfeldbruck veröffentlichte Meinhof das RAF-Papier mit dem Titel „Die Aktion des Schwarzen September in München – Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes“ und bedankte sich damit indirekt für den Versuch, sie aus der Untersuchungshaft zu befreien.
Die Haftbedingungen von Ulrike Meinhof
Zu dieser Zeit saß Meinhof bereits seit mehreren Monaten im sogenannten „toten Trakt“ der Justizvollzugsanstalt Köln. Die psychiatrische Frauenabteilung, ein eigener Gebäudetrakt innerhalb der Justizvollzugsanstalt, war nur mit Ulrike Meinhof belegt, die keinen Kontakt zu Mitgefangenen haben durfte, streng bewacht wurde und vom Alltag in der JVA abgeschnitten war. Ihre Anwälte protestierten gegen diese Bedingungen, die sie öffentlich als „Folter“ bezeichneten. Tatsächlich waren die Bedingungen sehr hart und es galten Sonderregelungen für Ulrike Meinhof. Von einer vollständigen Isolation kann jedoch keine Rede sein. Meinhof erhielt fast täglich Besuch durch ihre Anwälte und empfing auch weiteren Besuch von Familienmitgliedern. Dennoch warnte ein Arzt der Justizvollzugsanstalt im November 1972 die Anstaltsleitung davor, dass die harten Bedingungen der „strengen Isolierung“ die Gesundheit der Inhaftierten gefährden könne. Die inhaftierten RAF-Mitglieder nutzten diesen Umstand, um eine neue Mobilisierungsstrategie zu entwickeln.
Unterstützung durch die Bevölkerung und eine neue Mobilisierungsstrategie
Vor der „Mai-Offensive“ 1972 hatten kleine Teile der Bevölkerung, häufig aus den sehr unterschiedlichen linken bis linksradikalen Milieus, positiv auf die Entstehung der RAF reagiert. Einige Bürgerinnen und Bürger wären sogar zu Unterstützungsleistungen, wie etwa dem Stellen eines Schlafplatzes, bereit gewesen. Bereits während der „Mai-Offensive“ der RAF sanken die Zustimmungswerte gegenüber der Gruppe rasant. Dies zeigte sich auch daran, dass die Verhaftungen vieler RAF-Mitglieder nur durch Beobachtungen der Zivilbevölkerung möglich wurden.
Die inhaftierten RAF-Mitglieder, die über ein durch die Anwälte sowie durch Unterstützerinnen und Unterstützer entwickeltes geheimes Kommunikationsnetzwerk, dem sogenannten „info“, miteinander über die Gefängnismauern hinweg in Kontakt standen, mussten eine neue Mobilisierungsstrategie entwickeln.
„Dank ihrer Anwälte und einer für ihre Belange hochsensiblen (Teil-)Öffentlichkeit hatten die prominenten Gefangenen ungleich bessere Möglichkeiten als gewöhnliche Gefangeneninsassen, ihr Leider an der Haft publik zu machen und Zumutungen abzustellen. Die Skandalisierung des eigenen Zustands war dabei nie nur ein Mittel, um reale Verbesserungen zu erzielen. Je unmenschlicher die Haftbedingungen, desto mehr konnten sich die Gefangenen nachträglich bestätigt fühlen.“
Petra Terhoeven: Die Rote Armee Fraktion. Eine Geschichte terroristischer Gewalt, München 2022, 2. Auflage, S. 56-57.
Die teilweise harten Bedingungen der Untersuchungshaft ermöglichten es, sie öffentlichkeitswirksam als Folter zu markieren. Das Ziel dieser Strategie für die RAF-Mitglieder war es, die Bundesregierung und die führenden Politiker in eine direkte Traditionslinie zur Gewalt- und Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus zu stellen und sich als die neuen Opfer eines weiter an der Macht befindlichen Faschismus darzustellen. Dadurch sollten breite Bevölkerungsschichten für die Zwecke der RAF instrumentalisiert werden. Als Mittel zur Durchführung dieser neuen Kommunikationsstrategie entschieden sich die Führungsmitglieder der RAF für Hungerstreiks.
Der erste Hungerstreik der RAF
Vom 17. Januar bis zum 16. Februar 1973 traten 40 RAF-Inhaftierte in den ersten kollektiven Hungerstreik. Die „Hungerstreik-Erklärung“ gab Andreas Baader im Strafprozess gegen Horst Mahler in Berlin ab, zu dem er als Zeuge geladen war. Die führenden RAF-Mitglieder nutzten im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder Strafprozesse als öffentliche Bühnen, um mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Die Gruppe forderte in ihrer „Hungerstreik-Erklärung“ die „Aufhebung der Isolation als Folter für die politischen Häftlinge in der BRD“ sowie die Verlegung Meinhofs aus dem „toten Trakt“ im Gefängnis Köln-Ossendorf. Die Anwälte beklagten Formen der „Folter“ gegen die Inhaftierten. Die Gefangenen forderten Verbesserungen der Haftbedingungen, insbesondere bessere Kommunikationsmöglichkeiten mit der Außenwelt und den Zugang zu unabhängigen Ärzten. Teile der sehr unterschiedlichen linksradikalen Milieus in der Bundesrepublik Deutschland reagierten mit Solidarität auf den Hungerstreik und gründeten verschiedene Komitees zur Unterstützung der Hungerstreikenden. Das Ziel der RAF-Mitglieder, durch den Hungerstreik die Öffentlichkeit zu instrumentalisieren, gelang. Viele weitere Hungerstreiks sollten in den kommenden Monaten und Jahren noch folgen.