25. Februar 1923: 100. Jahrestag des Endes der Mikronation „Freistaat Flaschenhals“
1508 Tage bestand die Mikronation, die von ihren Bürgerinnen und Bürgern selbstironisch als „Freistaat Flaschenhals“ bezeichnet wurde – zwischen dem 10. Januar 1919 und dem 25. Februar 1923 existierte ein de jure selbstständiger, maximal zehn Kilometer breiter Streifen Land auf dem Gebiet des heutigen Hessen, der ökonomisch vollständig vom Rest des besetzen Deutschland isoliert war. Historischer Hintergrund dieses wohl kuriosesten, aber weitgehend in Vergessenheit geratenen Kapitels deutscher Wirtschaftsgeschichte war eine für die lokale Bevölkerung folgenschwere Ungenauigkeit der alliierten Siegermächte des Ersten Weltkrieges bei der Einteilung Deutschlands in Besatzungszonen.
Waffenstillstandsbedingungen 1918 und geographische Lage
Mit dem Waffenstillstand von Compiègne, der am 11. November 1918 zwischen dem Deutschen Reich auf der einen und Frankreich und Großbritannien auf der anderen Seite geschlossen wurde, endeten die Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg. In diesem Abkommen wurde auch die Besetzung der linksrheinischen Gebiete durch die Alliierten und die zusätzliche Einrichtung von Brückenköpfen links des Rheins festgeschrieben. Jene Brückenköpfe verfügten über einen Radius von 30 Kilometern, jeweils gemessen von den Rathäusern des britisch besetzten Köln, amerikanisch besetzten Koblenz und französisch besetzten Mainz und sollten in der Theorie die gesamte betroffene Region zwischen den Alliierten aufteilen. Zwischen dem US-amerikanischen und dem französischen Brückenkopf blieb jedoch faktisch ein an der schmalsten Stelle nicht mal einen Kilometer breiter Streifen um die Ortschaften Lorch, Kaub, Zorn und weitere kleinere Dörfer, der fortan keiner Besatzungszone angehörte. Im international angespannten Klima der Nachkriegsjahre waren weder die USA noch Frankreich bereit, sich zu dem Fehler zu bekennen. Ein pragmatisches Entgegenkommen im Sinne der betroffenen Einwohnerinnen und Einwohner von Seiten der Besatzungstruppen wurde nicht als Option erwägt. Während der damalige Lorcher Bürgermeister, Edmund Pnischeck, von rund 8.000 betroffenen Seelen spricht, geben andere Quellen Hinweise auf rund 17.000 Menschen, die 1919 im wegen seiner Optik als Freifläche zwischen zwei Radien als „Freistaat Flaschenhals“ bezeichneten Gebiet lebten.
Politische und wirtschaftliche Lage im „Flaschenhals“
Bei der Mikronation handelte es sich nicht um einen völkerrechtlich anerkannten Staat. Zwar hing das Gebiet geographisch mit dem unbesetzten Deutschland zusammen und war wegen des geringen landwirtschaftlichen Ertrages auch ökonomisch abhängig von der Umgebung, doch rechtlich bestand Anfang 1919 von außen keine behördliche Zuständigkeit mehr für das Territorium. Mit einem Erlass des Oberpräsidiums Kassel vom 3. Januar 1919 wurde die kommunale Verwaltung pro forma an den Kreis Limburg als nächstgelegene, unbesetzte Kreisstadt übergeben. Zum politischen Oberhaupt der Mikronation wurde der Lorcher Oberbürgermeister Pnischeck, der die Herausgabe eines nur im „Flaschenhals“ gültigen Notgeldes veranlasste. Aufgrund der prekären wirtschaftlichen Lage florierte der Schmuggel von Gütern aus der französischen Besatzungszone über den Rhein. In Rüdesheim entführten aus dem „Flaschenhals“ stammende Eisenbahner sogar einen französischen Zug, der sich mit Reparationen in Form von Ruhrkohle beladen auf dem Weg nach Italien befand. Nach einer wirtschaftlich herausfordernden Anfangszeit lebten die Bewohnerinnen und Bewohner der Mikronation anschließend vor allem wegen des regen Weinhandels mit den Nachbargebieten in relativem Wohlstand. Besonders für die französische Kommandantur stellte der „Flaschenhals“ als potentieller Fluchtweg für entflohene Kriegsgefangene ins unbesetzte Deutschland ein Problem dar.
Ende der Mikronation und Gegenwartsbezug
Wenige Tage nach dem Einmarsch französischer sowie belgischer Truppen in die bis dahin unbesetzten Teile des Ruhrgebietes im Konflikt um die Erfüllung der alliierten Reparationsforderungen erreichten französische Truppen am 25. Februar 1923 auch den „Freistaat Flaschenhals“. Trotz des damit verbundenen faktischen Endes der Mikronation leistete die hiesige Bevölkerung passiven Widerstand gegen die Besatzung, bis auf der Londoner Konferenz im November 1924 die rechtsrheinische Besatzung endgültig beendet wurde.
1994 schlossen sich ortsansässige Winzer und Gastronomen zur Tourismusförderung zur „Freistaat-Flaschenhals-Initiative“ zusammen. Aus Sicht der historisch-politischen Bildungsarbeit ist das Erinnern als lokalgeschichtliche Ereignisse, die im Falle der Mikronation die Region des heutigen Rheingau-Taunus-Kreises direkt betrafen, neben ihrer fortdauernden Relevanz für die Region selbst ein bedeutsamer Zugang zur Vermittlung größerer historischer Zusammenhänge.