27.-31. Oktober 1922: 100. Jahrestag „Marsch auf Rom“
Die Lebensrealität vieler Bundesbürgerinnen und Bundesbürger ist aktuell geprägt von den Aus- und Wechselwirkungen des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der Energiekrise, von Inflation und Isolation im Angesicht der Pandemie. Die aktuelle Krisenkonstellation gilt als die herausforderndste seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und stellt als Summe der berechtigten Zukunftssorgen und -ängste vieler einzelner Bürgerinnen und Bürger demokratische Systeme weltweit auf eine harte Probe. Dass solche überwiegend wirtschaftlichen Bedrohungen die Grundlage für das Erstarken der politisch radikalen Rechten bilden können, die – zunächst oft in der Opposition – in populistischer Manier stark vereinfachte Scheinlösungen und vermeintlich Schuldige präsentiert, zeigen aktuelle Wahlergebnisse in ganz Europa. So stellt die postfaschistische „Fratelli d´Italia“ mit Georgia Meloni seit dem 22. Oktober 2022 Italiens Ministerpräsidentin, getragen von einem Mitte-Rechts-Bündnis. Das Logo der als rechtsextrem und rechtspopulistisch eingestuften Partei ziert eine trikolore Flamme in den Nationalfarben, die aus einem schwarzen Balken aufsteigt, der gemeinhin als das Grab des faschistischen „Duce“ Benito Mussolini gilt. Anlass genug also, aus heutiger Perspektive auf die Person Mussolinis und den von ihm vom 27. bis 31. Oktober 1922 inszenierten „Marsch auf Rom“ zurückzublicken.
Politische Karriere Mussolinis bis 1918
Der 1883 geborene Benito Mussolini engagierte sich bereits in jungen Jahren für die sozialistische Presse und stieg 1912 sogar zum Chefredakteur des „Avanti!" auf, dem Presseorgan der „Partito Socialista Italiano“ (PSI), der sozialistischen Arbeiterpartei Italiens zu Beginn des 20. Jahrhundert. Obwohl er sich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch der Parteilinie getreu für die Neutralität Italiens aussprach, äußerte er bereits im Oktober 1914 die bellizistische Forderung, Italien solle im Kontext eines italienischen Nationalismus aktive Kriegspartei auf Seiten der Entente, also dem Bündnis aus Großbritannien, Frankreich und Russland, werden. Dies führte zum Parteiausschluss am 24 November 1914. Aufgewiegelt von Mussolini und anderen interventionistischen Wortführern, die einen Kriegseintritt Italiens forderten, traten 1915 erstmals sogenannte „Fasci“ (zu Deutsch „Bündel“) auf, die auch nach dem Kriegseintritt Italiens am 23. Mai des Jahres Straßendemonstrationen organisierten und mitunter gewaltsame gegen neutralistische Kriegsgegner – in erster Linie Organisationen und Institutionen der Arbeiterbewegung – vorgingen. Von August 1915 bis August 1917 leistete Mussolini selbst Militärdienst, bei dem er bei einer Übung hinter der Front schwer verwundet wurde. Im Widerspruch zu seiner vor und während des Krieges wirtschaftlich nicht gesicherten Existenz inszenierte sich Mussolini während seines politisches Machtgewinns zunehmend zur Lichtgestalt und zum Heilsbringer Italiens.
Aufstieg der politischen Rechten nach Kriegsende
Nach Kriegsende kam es im instabilen, von der Macht des Königs und der bürgerlichen Funktionseliten determinierten politischen System der Siegermacht Italiens zunächst zu einem Erstarken der politischen Linken, besonders der PSI, die sich ähnlich der deutschen USPD die russische Oktoberrevolution zum Vorbild eines bolschewistischen Umsturzes nahm. Parallel hierzu etablierte sich eine zunächst noch stark fragmentierte „Neue Rechte“, die sich über die Brückennarrative einer weit verbreiteten nationalistischen Enttäuschung über den vermeintlich „verstümmelten Sieg“ Italiens im Weltkrieg und eine militante Bekämpfung der linken, sogenannten „Roten Gefahr“ identifizierte. Bereits 1919 formierten sich die „Fasci“ auf Geheiß Mussolinis neu. 1920 erodierte das politische System Italiens vor dem Hintergrund einer anhaltenden faschistischen Polemik gegen den „Staatsbolschewismus“ und dem Vertrauensverlust bürgerlicher Eliten in die Handlungsfähigkeit des Staates. In der Folge breitete sich die faschistische Bewegung geographisch und zahlenmäßig aus, Mussolinis selbst avancierte als „Duce“ zum unbestrittenen Kopf der Bewegung, der die lokal begrenzt agierenden Squadren und die „Fasci“ in der „Partito Nazionale Fascista“ (zu Deutsch „Nationale Faschistische Partei“, PNF) zusammenführte. Die PNF stellte in erster Linie ein Sammelbecken dar für gescheiterte Existenzen, im Krieg geschulte Experten der Gewalt und Futuristen mit der Vision eines „Neuen Menschen“, die allesamt keinen Weg in den Frieden fanden. Der „Duce“ selbst stieg neben seinem unbedingten Geltungsdrang auch deswegen zur unumstrittenen Gallionsfigur auf, weil er die Kombination dieser Charakteristika als Orientierungsmarke mit politischer Agitation perfektionierte. Eine entscheidende Niederlage der orientierungs- und führungslosen Sozialisten im politische Machtkampf war außerdem der gescheiterte Generalstreik im Juli und August 1922, den die Faschisten gewaltsam niederschlugen.
Die Inszenierung des „Marsch auf Rom“
Trotz zahlreichen, von den Ankündigungen Mussolinis, zur Regierungsübernahme zu einem „Marsch auf Rom“ bereit zu sein, gespeisten Warnungen weigerte sich Ministerpräsident Luigi Facta, den Notstand auszurufen. Am 27 Oktober 1922 begannen etwa 15.000 Anhänger der faschistischen Bewegung, lokale Verwaltungsgebäude, Verkehrsknotenpunkte und Kasernen zu besetzen, sich Zugang zu Waffenlagern zu verschaffen und in Richtung der Hauptstadt vorzudringen. Dieser kaum vorbereitete „Marsch“ im strömenden Regen wurde in der faschistischen Diktatur zum Eckpfeiler der Revolution stilisiert und so Basis des Mythos vom vermeintlichen „faschistischen Umsturz“. König Viktor Emmanuel III. verweigerte am nächsten Morgen die zur Inkraftsetzung unabdingbare Unterschrift des nun doch von der Regierung Facta ausgearbeiteten Notstandsdekrets. Nach dem Rücktritt der Regierung bestellte König Viktor Emmanuel III. Mussolini nach Rom ein und ernannte ihn dort zum Ministerpräsidenten, wohl auch um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Am 31. Oktober folgte eine faschistische „Siegesparade“ der „Schwarzhemden“, die an das Pathos und die inszenierte Drohkulisse des „Marsches“ anknüpfte. In den folgenden Jahren entfesselten die Faschisten im Gleichschritt mit der Konsolidierung ihrer Macht auf dem Weg zu einer totalitären Diktatur eine Woge der Gewalt gegenüber sozialistischen und kommunistischen Vereinen und Verbänden. Die Strahlkraft der faschistischen Bewegung Italiens macht auch sich darin bemerkbar, dass Adolf Hitler sich Mussolinis „Marsch auf Rom“ am 8. und 9. November 1923 zum Vorbild machte und einen „Marsch auf Berlin“ inszenierte, der jedoch scheiterte.
Aus Sicht der historisch-politischen Bildungsarbeit stellt der rasante Machtgewinn der italienischen Faschisten vor 100 Jahren, zu dessen Symbol der „Marsch auf Rom“ von jenen selbst stilisiert wurde, ein mahnendes Beispiel für die Verletzlichkeit demokratischer Systeme besonders im Angesicht globaler Krisen dar. Der Handlungsraum und die geographischen und zeitlichen Bezugsgrößen menschlichen Handelns haben sich in den letzten 100 Jahren durch das Internet und der Globalisierung stark gewandelt. Umso wichtiger ist es, dass Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf antidemokratisches Agitationspotential im virtuellen, anonymen Raum der Sozialen Medien, aber auch in der analogen Welt, gewarnt sind und sich aktiv und lebenslang für das Fortbestehen einer starken, wehrhaften Demokratie unter Verteidigung einer respektvollen und konstruktiven Debattenkultur engagieren.