10. Oktober 1847: 175. Jahrestag der Heppenheimer Versammlung
Am 10. Oktober 1847 trafen sich 18 führende liberale Politiker aus dem deutschsprachigen Raum im Gasthof „Zum halben Monde“ in Heppenheim, um über die politischen Verhältnisse im Deutschen Bund zu beraten, der 1815 auf dem Wiener Kongress von restaurativen Kräften geschaffen worden war. Dem Zusammenkommen der Teilnehmer in der vorausgegangen war die zunehmende wirtschaftliche Einheit in Form einer Vereinheitlichung fiskalisch-ökonomischer Rahmenbedingungen durch die Gründung des Deutschen Zollvereins 1834. Die Industrielle Revolution veränderte die Märkte grundlegend. Kleinstaaterei, unterschiedliche Währungen und der Druck zu Innovationen wie etwa dem Eisenbahnbau beeinflussten den Handel.
Zentrale Diskussionsinhalte der Heppenheimer Tagung stellten die prekären politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsgruppen im restaurativ-repressiven „System Metternich“ insbesondere seit der Industriellen Revolution sowie die nationalliberale Forderung nach einem deutschen Nationalstaat mit Verfassung dar. Die Tagungsergebnisse können somit sowohl als Spiegel der Überlagerung bürgerlich-liberaler Forderungen mit proletarischen Protesten gegen Hunger und soziale Not als auch als Vorboten der Revolution von 1848/1849 und dem aus ihr hervorgegangenen Paulskirchenparlaments gesehen werden. Diese tiefe kausale, lokale und temporale Verwurzelung der Heppenheimer Versammlung in der Zeit des Vormärz unterstreicht ihre herausragende Bedeutung für die Deutsche Revolution von 1848/1849.
Mit Napoleon beginnt auch in den deutschen Staaten die Verfassungsentwicklung. Leo von Klenze errichtete bereits zwischen 1821 und 1828 im Auftrag eines 1803 mediatisierten fränkischen Schönborn-Fürsten die Konstitutionssäule bei Gaibach. Diese Säule war eine architektonische Belobigung der bayerischen Verfassung von 1818. 1832 kamen zum Jahrestag der Einweihung Menschen mit schwarz-rot-goldenen Fahnen. Hier rief der frühliberale Politiker und Staatsrechtslehrer, der Würzburger Oberbürgermeister Wilhelm Joseph Behr, zur Fortentwicklung der 18er-Verfassung auf. Behr saß später 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung.
Kontext in Restauration und Vormärz
Nach dem Sieg der europäischen Mächte über Napoleon in den Koalitionskriegen trafen sich die europäischen Machthaber unter Führung des österreichischen Staatskanzlers Clemens Fürst von Metternich 1815 auf dem Wiener Kongress, um Europa im Zeichen der Restauration politisch und wirtschaftlich neu zu ordnen. Dort wurde der Deutsche Bund geschaffen, ein loser Fürstenbund ohne handlungsfähige Zentralgewalt, geprägt von Überwachung und Denunziation. Im Zusammenhang mit der verstärkten politischen Zusammenarbeit nationalliberaler Denker und Aktivisten mit dem Ziel der Gründung eines deutschen Nationalstaates kam es auch vermehrt zu wirtschaftlicher Kooperation. Diese Entwicklung manifestierte sich in der Gründung des deutschen Zollvereins 1834, dessen Zielsetzung die Schaffung eines wirtschaftlichen Binnenmarktes unter Vereinheitlichung der fiskalischen Rahmenbedingungen war. Neben Preußen umfasste der Deutsche Zollverein zu Beginn das Großherzogtum Hessen, Kurhessen, Bayern, Württemberg, Sachsen und die thüringischen Einzelstaaten. Bis 1836 traten Baden, Nassau und Frankfurt dem Zollverein bei, 1842 erweiterte sich das Zollgebiet um Luxemburg, Braunschweig und Lippe.
In den 1840er-Jahren kam es aufgrund von grassierender sozialer Not vermehrt zu Aufständen wie dem Schlesischen Weberaufstand 1844, bei denen verzweifelte Arbeiter ihrem Hunger Ausdruck verliehen. Die so entstehende Massenarmut, die zur Verelendung ganzer Bevölkerungsgruppen und Berufsstände führte, bezeichnet man als Pauperismus. Die von Missernten durch Kartoffelfäule und Hungersnot geprägten Krisenjahre 1846/1847 verschärften die wirtschaftliche Notlage der Bevölkerung so, dass die Proteste der proletarischen Schichten gegen den Pauperismus mit den bürgerlichen Kampagnen für Nationalstaat und Verfassung verschmolzen und der von unterschiedlichen Akteuren getragenen Bewegung eine revolutionäre Sprengkraft verliehen wurde. Wenige Wochen bevor diese revolutionäre Sprengkraft sich im März 1848 in den deutschen Territorien auf die Initialzündung der Februarrevolution in Frankreich hin entfaltete, trafen sich unter dem Vorzeichen jenes hitzigen politischen Klimas die liberalen Wortführer in Heppenheim.
Organisation und Teilnehmer der Versammlung
Die Wahl auf Heppenheim als Veranstaltungsort fiel einerseits aufgrund der ruhigen ländlichen Lage abseits der Zentren potentieller Revolutionäre und damit Metternich´scher Überwachung und andererseits aufgrund der guten Anbindung an das Schienennetz. Einladungen an die gewünschten Teilnehmer ergingen ab dem 20. September durch den preußischen Unternehmer David Hansemann und den badischen Liberalen Karl Mathy. Neun der 18 Teilnehmer waren Mitglieder der badischen zweiten Kammer, darunter Friedrich Bassermann, Mitgründer und Verleger der Deutschen Zeitung, in der später erstmals die Diskussionsergebnisse der Tagung veröffentlicht wurden. Zu den prominentesten Teilnehmern zählte der aus Hessen-Darmstadt stammende Heinrich von Gagern, später Präsident der Frankfurter Nationalversammlung. Zur Gallionsfigur der Versammlung in Heppenheim avancierte mit dem einzigen preußischen Teilnehmer David Hansemann jedoch ein anderer. Hansemann gründete verschiedene Unternehmen in Aachen, darunter 1824 die gemeinnützige Aachener Feuer-Versicherungs-Gesellschaft. Darüber hinaus war er an der Gründung von Eisenbahngesellschaften wie der Strecke zwischen Köln und Minden beteiligt. In der Weimarer Republik wurde sein Konterfei auf dem 50 Reichsmark-Schein abgebildet. Die historische Relevanz der Heppenheimer Versammlung ist auch daran festzumachen, dass die Mehrzahl der Teilnehmer später auch im Vorparlament und der Frankfurter Nationalversammlung vertreten waren.
Diskussionsergebnisse und deren Bekanntmachung
Karl Mathy berichtete in der Deutschen Zeitung vom 15. Oktober 1847 von Ablauf und Ergebnissen der Heppenheimer Tagung. Eine breite Öffentlichkeit wurde durch die Übernahme der Meldungen in verschiedenen anderen Zeitungen erreicht. Die bewusste Schaffung einer Öffentlichkeit für die liberalen Forderungen stellte wie die Festlegung auf weitere jährliche Treffen, die als Wegbereiter der Heidelberger Versammlung am 5. März 1848 und des Vorparlaments verstanden werden können, ein Novum dar. Im 1834 gegründeten Zollverein erkannten die Liberalen „das einzige Band gemeinsam deutscher Interessen“, weswegen eine Kompetenzübertragung der Handels-, Verkehrs-, Steuer- und Gewerbepolitik der Staaten des Deutschen Bundes an den Zollverein notwendig sei, um einen deutschen Nationalstaat zu schaffen. Zu den weiteren Forderungen gehörten Verfassungsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Volkssouveränität. Die Argumentation, den Zollverein dem Deutschen Bund aufgrund der außenpolitisch integrativen Wirkung vorzuziehen, um so weiterhin eine Stärkung der Gewerbetreibenden gegenüber dem Adel zu erreichen, ist auf David Hansemann zurückzuführen. Die von den Teilnehmern definierten politischen Forderungen wurden Essentielle der Revolution, die sie und andere im Parlament umzusetzen versuchten. Trotz des gesamteuropäischen Scheiterns der Revolution (mit Ausnahme der Schweiz) und der Wiederherstellung des Deutschen Bundes 1851 wirkten die in Heppenheim erhobenen Forderungen weit über das 19. Jahrhundert hinaus nach. Vor dem Hintergrund, dass Pressefreiheit, Volkssouveränität und Verfassungsstaatlichkeit heute zu den tragenden Pfeilern unserer Demokratie zählen, ist die Heppenheimer Versammlung vor 175 Jahren als wichtige Station deutscher Demokratiegeschichte zu begreifen.
Auswirkungen der Heppenheimer Versammlung
Die Bekanntmachung der Forderungen der Heppenheimer Versammlung führte zwar zu geheimdienstlichen Aktivitäten gegen deren Teilnehmer von Seiten der Regierungen des Deutschen Bundes, im Angesicht des hitzigen politischen Klimas zum Jahreswechsel 1847/1848 erschienen die Würdenträger jedoch wenig handlungsfähig und es kam kaum zu konkreten Maßnahmen. Der preußische König Friedrich Wilhelm IV., der sich im Verlauf der Revolution von 1848/1849 durch Zugeständnisse an deren Spitze zu setzen versuchte, bezeichnete die Heppenheimer Liberalen in einem Brief an seinen Londoner Gesandten Christian von Bunsen als „Sekte“ und „Heppenheimer Demagogen“. Die Heppenheimer Forderungen wurden in unterschiedlichen Volksversammlung der Vorrevolutionszeit sowie im Vorparlament und in der Frankfurter Nationalversammlung, die am 18. Mai 1848 erstmals in der Paulskirche zusammentrat, wieder aufgegriffen. Rund 100 Jahre später, am 10. Dezember 1948 hielt die FDP ihren Gründungsparteitag in Heppenheim ab, auf dem sich die liberalen Parteien der drei westlichen Besatzungszonen zusammenschlossen, um an die liberale Tradition Heppenheims anzuknüpfen.
Die Heppenheimer Versammlung, die nur wenige Woche vor Ausbruch der Revolution von 1848/1849 in Europa und nur wenige Kilometer vom zentralen Revolutionsschauplatz Frankfurt stattfand, ist aus der historischen Retrospektive als entscheidende Zusammenkunft von prominenten Akteuren der im Frühjahr 1848 beginnenden Revolutionsperiode zu erkennen.